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Die Transluzenz dieser Haut glich hauchzart gebleichtem Pergamentpapier. Die Leiche auf dem Tisch erinnerte in ihrer Schönheit an jene märchenhafte Makellosigkeit Schneewittchens, die sich nur schwer beschreiben ließ.

Der nahezu reine weiße Teint, nur durch ein leichtes blau unter den Augen verunreinigt, zeugte von der Blutleere dieser toten jungen Frau auf dem Obduktionstisch von Dr. Senta Starck.

Selbst die Haare waren sorgfältig mit einer Art weißer Farbe nach hinten gegelt und so zog nur ein einziger andersfarbiger Blickfang an dieser Leiche die ungetrübte Aufmerksamkeit auf sich. Das „Rouge Allure“ auf den Lippen dieser Schönheit war so markant, dass es nur mit einem speziellen Stift aufgetragen sein konnte. Mit der Nummer 104 von Chanel. Als ob alles Blut in den vollen Lippen zusammengelaufen wäre und nichts mehr übrig blieb für den Rest des Körpers. Senta Starck strich mit ihren, in Latexhandschuhen steckenden, Fingerspitzen fasziniert über den makellosen Körper und schüttelte den Kopf. „Was für eine Verschwendung“, dachte sie angesichts, der vom Leben verlassenen, etwa zwanzigjährigen Frau, die vor ihr lag, fertig für die Beschau und die Obduktion.

Die renommierte Pathologin mit der Professur an der Uni Hamburg und der hochdotierten Anstellung am gerichtsmedizinischen Institut lief mehrfach um den Tisch, ohne den Blick von der Leiche abzuwenden. Sie nahm sich viel Zeit, den Körper zu lesen und zu studieren, bevor sie ihn in seiner Perfektion, zerstören würde. Die nur ein Zentimeter langen minimalinvasiven Schnitte in die vier Hauptarterien der Gliedmaßen waren ein Meisterwerk des Mörders. Kaum sichtbar an den Innenschenkeln und Achselhöhlen waren dem vermutlich sedierten Mädchen ergiebige und effektive Leckagen in ihrem Blutkreislauf zugefügt worden.

Nachdem ihr eigenes Herz sie weitgehend leergepumpt hatte, stellte es ausgehungert die Arbeit ein. Das Ganze hatte nur einige Minuten gedauert. Nur ein paar tiefe Schnitte an den richtigen Stellen beendete das Leben, der statistisch neunzig werdenden, nach bereits zwanzig Jahren. Die gestohlenen siebzig Jahre haben nicht einmal protestiert oder gejammert. Sie hätte noch etwa sechzigtausend Kilowattstunden Energie benötigt oder fünfzig Millionen Kalorien, um ihr normales Leben zu Ende zu bringen. Ohne Geburten gerechnet.

Wer bekam jetzt diese Energie. Der Mörder? Ihrer war davon überzeugt und geiferte dem Transfer entgegen.

Die Obduktion war ein destruktiver und kraftraubender Akt, der nach dem Y-Schnitt und dem Heraussägen des Brustbeins schließlich die, in Reihenfolge und Methodik vorgeschriebene, Entnahme der Organe vorsah. Senta verachtete ihn. Es war kein schöpferischer Prozess, der einen Potenzialausgleich besaß. Er stahl ihre kreative Energie und tötete ihre Emotionen. Es war ihr Job, der ihr die kleine, alte Villa mit Elbgrundstück und Bootsschuppen finanzierte.

Aber heute war es endlich wieder anders, heute gab es kein lästiges Protokoll. Umso euphorischer nippte Senta an ihrem Rotwein und streifte sich die Latexhandschuhe ab. Sie waren das letzte, was sie an ihrem nackten Körper trug. Außer der 104 „Rouge Allure Passion“ von Chanel auf ihren Lippen. Genau wie die Kleine auf ihrem Tisch, die sich gestern um die Stelle der Haushaltshilfe beworben hatte und von Senta zur Ader gelassen wurde. Die, vollgepackt mit warmen Leben, durch ihre Haustür kam und als entleerte, ausgekühlte Leiche über ihr Bootshaus in der Elbe verschwinden würde.

Aber nicht, ohne vorher zum Kunstwerk zu werden. Senta zog sich den Lippenstift nach, zündete sich einen Joint an und griff nach dem Skalpell. Zeit, Kunst zu schaffen wie die großen Surrealisten Dali, Picasso oder Kahlo. Fern von akademischen Vorgaben gehörte dieser Körper in Sentas Bootshaus, dessen Werkstatt fast dem Obduktionsraum der Gerichtsmedizin im Institut glich, einzig und allein dem schöpferischen Prozess eines unbekannten Modells und einer unbekannten Künstlerin. Um Kunst zu erschaffen, die nie vorzeigbar werden würde. Abgründig und schockierend.

Kunst von Dr. Senta Starck.