Schschsch…Die Stille nach Dir

Wie lange hatte ich Tessa wohl nicht gesehen? Sicher sechs Monate. Seit sie beruflich mit Leoni nach Frankfurt gezogen war, gab es die Gelegenheiten meine beste Freundin zu treffen nicht mehr so häufig. Umso überraschter schaute ich aus der Wäsche, als sie am späten Abend plötzlich vor der Tür stand. Ihr energisches Klopfen an der Terrassentür holte mich langsam zurück aus meinem Schlaf auf dem Sofa, in den mich meine derzeit favorisierte Netflix-Serie gezogen hatte. Wie so oft, nach einem harten Arbeitstag und der anschließenden Ausfüllung meiner Rolle als gute Hausfrau, Ehefrau und Mutter.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass es Tessa war, die mit zerzaustem Haar und ihren großen grünen Augen durch die Scheibe winkte. Diese Traumaugen unter den langen Wimpern, die so unwiderstehlich auf Männer wirkten und um die ich sie schon als Teenager beneidet hatte. Glück in der Liebe brachten sie ihr bisher nicht, Tessa zog Leoni allein groß. Ich formte leise fragend das Wort „TESSA?“ mit den Lippen, um meine Kinder nicht zu wecken. Ich sprang zur Tür und öffnete mehr oder weniger baff das Schiebeelement.

Tessa und ich fielen uns überwältigt in die Arme und verdrückten ein paar Tränchen der Wiedersehensfreude, bevor wir uns wieder fassten und ich sie hereinzog.

„Mensch Tessa, was machst du denn hier? Ich verstehe gar nichts mehr. Wieso hast du denn nicht angerufen? Wie spät ist es überhaupt?“ Ich überzog sie mit viel zu vielen hastigen Fragen.

„Schschschschsch!“ Sie lächelte und drückte mir sanft ihre Fingerspitzen auf die Lippen, bis ich mich wieder gefangen hatte. Das war ihre Geste, um mich zu beruhigen. Schon immer.

Ihre Finger auf meinen Lippen vor der Abi Prüfung.

Ihre Finger auf meinen Lippen vor meiner Hochzeit.

Ihre Finger auf meinen Lippen vor der Geburt meines ersten Kindes.

„Schschschschsch, ruhig Lina, ruhig.“ Und dann sortierte sie meine Gedanken in jeder Krise mit eindringlichen Worten richtig ein, damit ich alle Schwierigkeiten mit Bravour meisterte. Nur sie konnte sich auf die Frequenz meines rasenden Pulses legen und ihn mit einem Bremsfallschirm, aufgepustet mit dem Laut:

Schschschschsch

wieder auf Schrittgeschwindigkeit verlangsamen.

„Es ist zehn Uhr abends, Lina. Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe, Süße“, hauchte sie.

„Nein, nein, alles gut“, erwiderte ich, „Ist etwas passiert, was machst du denn hier?“

„Ich hatte plötzlich so eine Sehnsucht nach dir, Lina. Ich musste dich unbedingt sehen.“

„Ach Tessa“, ich fing an zu weinen, „Ich habe dich auch so vermisst, ich freue mich so sehr, dich zu sehen.“ Sie nahm mich nochmal in den Arm. „Weißt du was“, sagte ich, „Ich schenke uns ein Glas Wein ein. Ich habe dir so viel zu erzählen. Bernd ist auf Nachtschicht und die Kinder haben morgen erst zur zweiten Stunde Schule.“ Ich legte kurz meine Handfläche auf ihre Wange, sie ließ ihren Kopf in sie hinein sinken.

Auf dem Weg in die Küche hörte ich sie sagen „Warte, bleib“, doch ich plapperte weiter.

„Du bist so klasse, Tessa. Einfach so den weiten Weg nach Berlin zu kommen.“ Mittlerweile stand ich in der Küche vor dem offenen Kühlschrank und rief hinein: „Wo ist Leoni?“

„Darum bin ich auch hier!“, hörte ich sie aus der Ferne des Wohnzimmers rufen.

„Moment, ich komme“, rief ich zurück und zog die Flasche Weißwein heraus, „Ich höre dich hier so schlecht. Holst du schon mal zwei Gläser raus?“ Ich schlug den Kühlschrank zu und machte mich auf den Weg zurück zu Tessa ins Wohnzimmer. Sie gab mir keine Antwort und so redete ich weiter, während ich den Flur hinunterlief. „Ich muss dir unbedingt von den Kindern erzählen, ach Jeh die Kinder.“ Ich schraubte meine Stimme herunter. Mit den Worten: „Ich hatte ganz vergessen, dass die Jungs oben schlafen“, kam ich leise kichernd zurück ins Wohnzimmer.

„Tessa?“, ich sah mich um, der Raum war leer. „Tessa?“ Leise klopfte ich an der Tür des Gäste WCs. Nichts. So sehr ich sie auch suchte, Tessa war nicht mehr da. Auch im Garten, durch den sie gekommen war, keine Spur von meiner besten Freundin, die ich seit dem Kindergarten liebte wie eine Schwester. Eine Weile saß ich gedankenverloren da, wusste nicht so recht, wie lange es her war, dass ich aufwachte. Mir kam die Idee sie anzurufen, um zu fragen, warum sie wortlos wieder gegangen ist. Hatte ich irgendetwas falsches gesagt? Dreimal ließ ich es lange klingeln, ohne dass Tessa meinen Anruf auf ihrem Handy entgegennahm. Wo war sie nur hin? Ich überlegte krampfhaft, was der Grund für ihren abrupten Aufbruch gewesen sein könnte, obwohl sie erst wenige Minuten zuvor gekommen war. Nach einer spontanen Anreise von sechshundert Kilometern. Mir fiel gerade ein, dass sie als letztes sagte, sie sei auch wegen Leoni gekommen, als plötzlich mein Handy schellte. Der Klingelton, der auf meinem Handy nur ihr gehörte. That’s What Friends Are For. Auf dem Display leuchtete der Name: Tessa Maiwald. Ich riss das Telefon ans Ohr. „Tessa, wo bist du? Was habe ich gesagt? Was…“

Eine ruhige Frauenstimme unterbrach mich. Dieses Mal nicht mit den Worten „Schschschsch, Lina beruhige dich“, sondern mit einem sachlichen: „Lina Minster? Sind Sie Lina Minster?“

„Ähh, ja, wer sind Sie?“, antwortete ich konsterniert, „Wieso haben Sie Tessas Handy? Wo ist Tessa? Was haben Sie mit ihr gemacht?“ Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf.

„Lina, hören Sie. Mein Name ist Beate Brunner, ich bin Unfallärztin.“

Mir blieb die Luft weg.

„Wir haben Tessa hier bei uns in der Klinik. Sie hatte einen Autounfall.“

„Was ist passiert“, stammelte ich. „Wie geht es ihr? Sie war soeben noch bei mir. Ich komme sofort, Frau Doktor! Liegt sie in der Charité?“

„Lina, Lina, hören Sie. Ich rufe aus dem Klinikum Frankfurt an. Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Tessa vor dreißig Minuten den Folgen ihrer Verletzungen erlegen ist. Normalerweise hätte ich gar nicht zurückgerufen, aber Tessa hat zuletzt immer wieder gesagt: ‚Leoni muss zu Lina, versprechen Sie mir, dass Sie sich darum kümmern.‘ Und eine halbe Stunde später rufen genau Sie dreimal auf Tessas Handy hier an. Lina stand auf dem Display. Es tut mir unendlich leid. Wissen Sie, was Tessa wollte?“

Ich schluckte gegen den Kloß an, der mir die Luftröhre zudrückte. „Ich weiß es, Frau Doktor. Ich kann gerade nicht sprechen.“

Dann brach ich zusammen.

Drei Tage später stand sie vor meiner Tür mit ihrem Köfferchen. Das kleine Mädchen mit den großen grünen Augen und den langen Wimpern. Sie schluchzte verunsichert. Ich legte meine Fingerspitzen auf ihre Lippen und sagte leise: „Schschschsch, ruhig Leoni, beruhige dich. Ich bin für dich da.“

Sie blickte zu mir auf und ließ vorsichtig ihre Wange in meine Handfläche sinken.