Achtsam

Dass sie der unerwartete Tod ihrer Tochter so dermaßen aus der Bahn warf, lag in erster Linie an der Abruptheit ihres Todes. Aber viel mehr noch an der Tatsache, dass Meret am Morgen des Unfalls dem pubertierenden Teenager hinterher geschrien hatte:

„ICH HASSE DICH!“

Der Streit war nichtig. Ihre letzten Worte an Pina waren es nicht. Sie waren so bedeutsam, wie der Sicherungsbolzen einer Guillotine, den Meret beiläufig und unbedacht hinausgezogen hatte, während Pinas Kopf darin steckte.

Meret schrie wieder heiser in ihr Kissen, nachdem der Nachtalb ihre aufbäumende Kehle zugeritten hatte, bis sie in Schweiß und Tränen aufwachte, wie jede Nacht. Auch acht Wochen danach.

Und wie jede Nacht versprach sie sich erneut, sich heute ausbluten zu lassen oder zumindest vom Dach zu springen. Meret war in der Hölle, obwohl sie noch lebte.

„ICH HASSE DICH!“, schallte ihre Stimme über die erwachende Straße der Siedlung und überschlug sich dabei. Nachbarn blieben stehen und schauten kopfschüttelnd hoch zu ihrem Küchenfenster. Der Moment, als die Zeit wenige Sekunden stehen blieb. Pina war auf ihr Rad gestiegen und drehte sich noch einmal um. Ihre Augen antworteten stumm: „Mama, ich liebe dich, aber kann gerade nicht reden. Wir klären das heute Abend.“

Meret fuhr ein Schwert durchs Herz, als Pina sich wortlos abwandte und zur Schule aufbrach, in der sie nie ankam. Diese Szene lief für sie in einer Endlosschleife ab.

„Wenn man lebendig ins Fegefeuer geraten kann“, dachte sie. Ihr Blick verschwamm und sie fand sich erneut schreiend am Küchenfenster wieder.

„ICH HASSE DICH!“

Das waren ernsthaft die letzten Worte an ihr Kind. Das Kind, dass sie so liebte. Eine dumme, emotionale Sekunde, in der die Nerven einer sorgenvollen Mutter durchgingen und zum ersten Mal die Worte in den Tag nicht waren:

„Hab dich lieb, pass auf dich auf.“

Meret hasste sich so sehr für diese eine Schwäche, dass sie ihre tränenden Augen nicht mehr schloss, in der Hoffnung, dass sie ihr aus den Höhlen brennen würden.

Die sanfte und kühle Berührung ihrer Lider empfand sie angenehm wohltuend und weckte ihre Aufmerksamkeit. Die Berührung duftete nach Pina, zart und frisch. Meret glitt durch einen Tunnel, an dessen Ende ein diffuses Licht wartete. Sie nahm eine Stimme und ein sich langsam formendes Wort wahr.

„Mama…. Mama“ … ein Schluchzen.

Meret schlug ihre brennenden Augen auf, die Pina acht Wochen mit Salbe gepflegt hatte. Ein wunderschöner Traum, Pina saß seitlich auf ihrem Bett. „Pina, bin ich endlich tot?“

„Oh nein, Mami, Gott sei Dank nicht. Du hattest einen Unfall und warst acht Wochen im Koma.“ Pina brach weinend auf ihrer geliebten Mutter zusammen.

„Es tut mir so leid, Mami, dass wir im Streit auseinander gegangen sind. Das passiert niemals wieder.“