El Padre

1. Franco

Er saß in seinem Wagen und hatte die Coke geleert, die Elisa ihm vorhin mit zorniger Miene in der gleichen Papiertüte, wie die Tacos, über den staubigen Parkplatz gebracht hatte. Ein kleiner wütender Smiley, nebst den Buchstaben „fck.u.“, zierte die weiße Tüte, die sie wortlos und ohne ihn anzusehen durch das Seitenfenster reichte.

Höchstwahrscheinlich hatte sie ihm in die Tacos gespuckt, so angepisst, wie sie aussah. Es war ihm egal, Elisa war Familie. Was konnte er dafür, dass sie sich immer wieder mit diesem trotteligen Lackaffen Scott traf, dessen Drecksfinger nichts an ihr und schon gar nichts in ihr zu suchen hatten. Und damit er das endlich auch kapierte, hatte Franco es ihm gestern Abend in seinen verdammten Schädel geprügelt: Lass. Deine. Wichsgriffel. Von. Meiner. Cousine. Verstanden?

Onkel Carlos erwartete von Franco, dass er auf seine Tochter Elisa aufpasste. Und was Onkel Carlos wollte, war hier in der Gegend Gesetz. Die Papiertüte mit allem Verpackungsmüll des Diners flog im hohen Bogen aus Francos Karre, wurde von den staubigen heißen Böen und Windteufeln sofort zerlegt und in alle Himmelsrichtungen dieser verfluchten Wüste verteilt.

Das hier war kein schöner Ort an der „Interstate 25“, zehn Meilen vor Alamogordo, und der schäbige Diner zwischen Agaven, Yuccas, Klapperschlangen und Präriehunden erschien ihm als der Vorhof zur Hölle.

Franco hatte nicht viel übrig für diese Welt. Er hielt sie für eine miese Schlampe, die sich einen Spaß daraus machte, ihre Menschen schlecht zu behandeln. Es vergnüglich fand, sie unter Bergrutschen zu begraben oder von Tsunamis überrollen, Tornados erschlagen, in Massen verhungern oder einem angeblichen Schicksal heimsuchen zu lassen – wie zum Beispiel dem seiner Mutter, die vor den Augen eines Zehnjährigen langsam an Krebs verreckte. Diese Welt hatte Franco Zeit seines Lebens im Stich gelassen. Warum sollte er in Gottes Namen auch nur irgendetwas Gutes für diesen Planeten übrig haben? Sie konnte ruhig seinen Müll fressen. Außerdem gab es seit ein paar Tagen noch diesen süßen zweiten Grund, den Müll mit einem Lächeln aus dem Fenster zu werfen.

Franco glaubte nicht an das üblicherweise anerkannte Wenn/Dann-Denken. Nichts hatte scheinbar Konsequenzen. Kausalitätsüberlegungen waren für regeltreue Dummköpfe. Man musste nur die Augen aufmachen und die Realitäten dieser ungerechten Erdkugel erkennen: Je rücksichtsloser man auf ihr agierte, desto besser kam man mit ihr klar. Onkel Carlos war doch das beste Beispiel.

Hier herumzustehen und ein Auge auf Elisa zu haben, war eine Pflicht, die er Franco abverlangte. Er hatte ihn nach dem Tod seiner Mutter großgezogen und bezahlte auch den Schlitten, den Franco fuhr. Aufpassen, das tat er immer nachmittags, wenn Elisa die Spätschicht im Diner hatte. Sie musste genauso in einem einfachen Job arbeiten wie er selbst auch, morgens im Pflegeheim.

Franco betreute dort behinderte Menschen und ehrlicherweise tat er das sogar gern. Er sah einen Sinn darin, hilflose Menschen zu waschen, anzuziehen und zu füttern, mit ihnen zu kommunizieren und auf sie einzugehen. Menschen, die ebenfalls von der Welt um ihr Glück beschissen wurden. So wie er. Am meisten mochte er Carla. Sie war die Essenz eines guten Menschen. Vereinte Dinge wie Unbekümmertheit, Vertrauen, Unschuld, Ehrlichkeit, Zuneigung, Schweigsamkeit in sich. Wie Aquamarine strahlten ihre Augen Carlos an und obwohl sie etwas zu eng standen und sich ihre Blickachsen einen Hauch nach innen neigten, liebte Franco es, in den Inbegriff der Verletzlichkeit hinein zu sehen. Einzutauchen in eine Welt ohne Neid, ohne Häme, ohne Angst. Genau das strahlten ihre Augen aus, obwohl Carla derartig von dieser Welt verarscht wurde.

In diesem Moment wurde Franco aus seinen Gedanken gerissen, denn Elisa trommelte auf seine Haube. »Du dummes Arschloch, warum hast du Scott verprügelt?« Sie hatte wohl gerade Feierabend und war richtig geladen.

Zeitgleich klopfte es am Seitenfenster, in dem ein staubiger, abgeschrappter Coke-Becher auftauchte – in der Hand einer ernst blickenden, blauäugigen Polizistin der Highway Patrol. Im linken Rückspiegel nahm Franco die Staubwolke hinter dem bordeauxroten Cadillac von Onkel Carlos wahr, der gerade auf den Parkplatz des Diners abbog, um Elisa abzuholen, wie jeden Abend.

Von vorne, in Elisas Rücken, setzte sich eine dunkle S-Klasse mit getönten Scheiben in Bewegung, die Franco hier draußen noch nie gesehen hatte. Langsam und unheilvoll.

»Elisa … Elisa«, rief eine Stimme von rechts. Wo in Gottes Namen kam ausgerechnet jetzt dieser bescheuerte Scott mit seinem geschwollenen Gesicht her? Francos Alarmglocken klingelten so schrill wie Elisas Stimme, die sich vor Zorn überschlug. Sein Blick schweifte wie in Zeitlupe von der hübschen Polizistin im linken Seitenfenster über den Rückspiegel mit Onkel Carlos’ Cadillac zu der ausrastenden Elisa vor seiner Motorhaube, dem rechts vorne herannahenden Benz bis hin zu Scott, der im Rahmen des rechten Seitenfensters heran stürzte.

Wenige Sekunden später ging es auf dem Parkplatz des Highway-Diners „El Pinto“ in New Mexicos Ausläufern der Chihuahua-Wüste wie aus heiterem Himmel drunter und drüber! Und um Leben und Tod!

2. Carlos

»Was soll das, Julio? Du bist mein bester Freund, aber wie ich meine Kinder erziehe, geht dich nichts an!« Carlos nippte an einem Drink und sah seinen Sandkastenkumpel und Vertrauten Julio sehr ernst an.

»Franco ist nicht dein Kind«, erwiderte Julio, in dem Wissen, dass er seinen Boss nicht daran erinnern musste. »Er ist der Sohn meiner toten Schwester und somit unter meiner Verantwortung.«

»Ach, Carlos, die Kinder sind längst über zwanzig, und ich habe sie auch mit großgezogen. Warum lässt du sie in so miesen Jobs arbeiten, anstatt sie in der Firma einzusetzen? Du könntest beide sehr gut gebrauchen.«

»Weil sie Latino-Kinder sind. Sie müssen lernen, sich in dieser feindlichen Gesellschaft durchzuboxen und auf eigenen Beinen zu stehen.«

Carlos stürzte den Rest des Drinks runter. »Wer weiß, wie viel Zeit ich mit ihnen habe und wie lange diese ehrenwerte Firma existiert.«

Julio dachte an Anita. Als Carlos’ Frau noch lebte, war alles einfacher. Anita … wie sehr er sie geliebt hatte. Die Frau, die alles im Gleichgewicht hielt. Sollte Carlos jemals von ihrem Seitensprung vor zweiundzwanzig Jahren erfahren, wäre Julio ein toter Mann. Jede Freundschaft hatte ihre Grenzen. Und manche Dinge verjährten nicht. Carlos durfte nie erfahren, dass Elisa nicht von ihm ist. Anita nahm das Geheimnis mit ins Grab und Julio plante dasselbe. Obwohl es ihm das Herz zerriss, wenn er seine Tochter ansah. Er konnte ihr nicht mitteilen, dass er ihr richtiger Vater war, aber er würde niemals zulassen, dass ihr etwas passiert.

Aber Franco war für den Job gewiss nicht geeignet. Er war nur ein halbstarker Idiot. Carlos verdrängte, dass es ganz anderer Fähigkeiten bedurfte, um jemanden effektiv zu beschützen. Julio kannte Männer mit solchen Fähigkeiten.

»Hol den Wagen, Julio. Elisa hat in zwanzig Minuten Feierabend.« Einige Minuten später waren sie auf der Interstate unterwegs, um zum El Pinto zu fahren und Elisa von ihrer Spätschicht abzuholen.

»Wirst du dich jemals von der alten Karre trennen, Carlos?«, scherzte Julio am Lenkrad und sah Carlos im Rückspiegel lachend an.

»Nein.« Dazu hingen viel zu viele Erinnerungen an dem alten Caddy. Carlos strich zärtlich mit der Hand über Anitas leeren Platz neben ihm auf der Rückbank, die mit weichem roten Leder bezogen war. So brüchig, wie Carlos Seele seit Anitas Verlust.

Er war ein mieser Ehemann. Hatte Anita häufig betrogen. Jetzt, wo sie nicht mehr da war, würde Carlos die Zeit gerne zurückdrehen und die Dinge anders machen. Jedoch war es zu spät.

Sie bogen auf den Parkplatz des El Pinto ein, und Julio sah sofort den Streifenwagen, der schräg hinter Franco stand, und die Polizistin an seinem Seitenfenster.

»Es gibt Ärger, Carlos. Die Bullen sind bei Franco!«

»Fahr langsam auf die andere Seite. Ganz ruhig!«, entgegnete Carlos. Dann schrie er panisch: »Oh mein Gott … Julio … irgendjemand schießt!«

3. Elisa

Sie wusste, seit ihrem achten Lebensjahr, dass Julio ihr richtiger Vater war. Mindestens ein Dutzend Mal hatte ihre Mutter es nicht verneint, wenn sie nachfragte. Niemand kann das Gespür eines heranwachsenden Mädchens täuschen, und je älter Elisa wurde, desto stärker spürte sie, wie ähnlich sie Julio wurde. Erwachsene ließen sich leicht täuschen, sie glaubten nur, was sie glauben wollten. Aber Kinder doch nicht.

Sie spielte die Nummer mit. Carlos war ein jähzorniger Hund, dessen Ehre über allem stand. Deswegen mochte er Scott auch nicht. Scott war weiß, und man blieb besser unter sich in Carlos’ Denkschule. Frauen hatten ihre zugeteilte Rolle auszufüllen.

»Hör zu, Elisa. In Zukunft wird Franco vor dem Diner sein und auf dich achtgeben. Bringe ihm dafür täglich eine warme Mahlzeit raus, verstanden?«

»Natürlich, Daddy, mache ich.«

Am Arsch. Sie hasste es, permanent unter Kontrolle zu sein. Carlos suchte den Job aus, in dem ihr gierige Trucker, die sich Tage lang nicht gewaschen hatten, permanent auf den Hintern glotzten, während sie nach Kaffee und Rühreiern blökten.

Elisa würde ausbrechen, und den passenden Partner hatte sie mit Scott bereits gefunden. Beide träumten von einem gemeinsamen Leben, weit entfernt von Carlos. Seit Mutter starb, hielt sie nichts mehr in New Mexico. Ein Haus voller Kinder, vielleicht in Kalifornien – das war es, was Elisa sich wünschte.

Und nachdem Franco gestern Abend Scott vermöbelt hatte, würde sie heute die Bombe platzen lassen. Kurz dachte sie darüber nach, mittags in Francos Tacos zu spucken, aber so mies war sie nicht.

Jetzt, da sie Feierabend hatte, rannte sie aus dem Diner zu Francos Karre und stellte ihn zur Rede. »Warum hast du Scott verprügelt, du dummes Arschloch?«, schrie sie heiser und boxte mit beiden Fäusten auf die Haube des schwarzen Mustang.

»Hohoho, ganz ruhig, junge Dame.« Elisa hatte die junge Polizistin, die mit einem alten Coke-Becher an Francos Seitenscheibe stand, in ihrer Wut gar nicht bemerkt. Wieso griff sie hektisch nach ihrer Waffe? Dann schlug ihr jemand von hinten mit einem Knüppel auf den Oberschenkel, und sie sackte langsam auf der Haube zusammen.

4. Eva

Eva saß neben ihrer Schwester, die beharrlich schwieg und freundlich lächelte. Es brach ihr das Herz, dass sie nicht mit ihr reden konnte. Carla, drei Jahre älter als Eva, konnte ihr nie die große Schwester sein, die Eva sich oftmals gewünscht hatte. Die sie als Kind tröstete, wenn sie sich die Knie aufgeschlagen hatte. Die die Jungs ihrer Klasse, die sie hänselten, verprügelte. Die ihr Tipps gab, als sie in die Pubertät kam.

Gott sei Dank gab es seit kurzem diesen besonderen Jungen, der sich hier mit einer Naturgabe, wie Eva sie noch bei niemandem gesehen hatte, um die behinderten Menschen kümmerte.

Dass Franco im Wohnheim morgens seinen Dienst verrichtete, beruhigte sie sehr, und so konnte sie sorgenfrei ihre Arbeit bei der Verkehrspolizei tun, für ein kleines Gehalt, das kaum reichte, um Carlas Platz in der Einrichtung zu finanzieren.

Der Mustang stand am Abend an der gleichen Stelle wie immer, und Eva lenkte ihren Streifenwagen lautlos in seinen toten Winkel. Der Coke-Becher wurde ihr direkt vor den Fuß geweht, nachdem sie leise die Tür geöffnet und ihren linken Stiefel auf den sandigen Wüstenboden gesetzt hatte. Sie stieg aus und griff nach dem Becher. Als sie sich an Franco anschlich, kribbelte es in ihrem Bauch.

Täglich wiederholten sie das kleine Rollenspiel der Umwelterziehung, um heftig miteinander zu flirten. »Guten Abend, Führerschein und Zulassung bitte! Wenn Sie hier Ihren Müll in die Natur werfen, bin ich gezwungen, Sie zu verhaften.«

Sie mochte Franco sehr und konnte sich durchaus mehr mit ihm vorstellen. Er war jemand, der sein eigenes Verhalten nicht von dem Verhalten anderer abhängig machte. Er mochte Menschen, nur nicht die Welt an sich. Seine negative Einstellung der Welt gegenüber würde sie ihm schon abgewöhnen – wenn er endlich einmal im Leben Glück erfuhr. Vielleicht könnte sie irgendwann sein Glück werden.

Diese Furie kam mitten über den Parkplatz gerannt und boxte auf die Haube des Mustangs. »Wieso hast du Scott verprügelt, du dummes Arschloch«, blaffte die junge schwarzgelockte Frau durch die Windschutzscheibe.

»Hohoho, ganz ruhig, junge Dame«, erwiderte Eva in dem Moment, als sie gerade gegen die Seitenscheibe geklopft hatte. Hinter der wildgewordenen Latina, die stinksauer zu sein schien, nahm Eva den rollenden Daimler wahr, dessen dunkle Beifahrerscheibe sich gerade herabsenkte und den Blick in den Lauf einer Maschinenpistole freigab. Sie griff an ihr Holster, um die Dienstwaffe zu ziehen, aber Eva hatte keine Chance.

5. Pablo

Pablo ging davon aus, dass die Anzahl an Halbgeschwistern in New Mexico hoch war, aber scheinbar war er der einzige, der sich etwas geschworen hatte: den Schwur, seinen Vater zur Hölle zu schicken, sobald er die Gelegenheit dazu bekäme. Pablo beschloss, Carlos zu töten, als er neun Jahre alt war. Carlos hatte das Leben seiner Mutter und damit auch seines ruiniert. Warum sonst hatte seine Mutter sich wohl zu Grunde gesoffen und war vor seinen Kinderaugen in wenigen Wochen vergilbt und schließlich innerlich aufgeplatzt? Als er sie nach der Schule fand, lag sie da. Ausgelaufen aus ihren Körperöffnungen, wie eine Packung Kirschsaft. Der Moment, als Pablo sich schwor, Rache zu nehmen. An dem Mann, der alle seine Affären fallen ließ, wie heiße Kartoffeln, und sich nie wieder darum scherte, was er angerichtet hatte.

Heute war es soweit. Der siebzehnjährige Pablo wartete darauf, dass Carlos auf den Parkplatz des El Pinto fuhr, rollte langsam in der Fahrstufe D mit der geklauten S-Klasse aus seinem Versteck hervor und ballerte mit der Ingram M11 in Richtung des bordeauxroten Cadillac, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, was und wer sich in seiner Schussbahn aufhielt.

Das kleine Ding schlug um sich wie der besessene Belzebub, aber angesichts der Quantität des Auswurfes war Treffsicherheit hier nur zweitrangig. Pablo schaffte drei oder vier Salven, bevor sein Kopf wie von einer Zange gegriffen, rausgezerrt und über der Fensterunterkante der Fahrertür so heftig verbogen wurde, bis es laut knackte.

Stille.

6. Scott

Schluss mit der Geheimniskrämerei.

Elisa musste endlich wissen, dass Julio ihn vor sechs Monaten angeheuert hatte, um auf sie aufzupassen. Noch einmal würde er sich von der Niete Franco nicht verprügeln lassen, obwohl er ihn mit zwei Griffen leicht hätte töten können – Fähigkeiten, die er beim Militär unter Sergeant Julio Gomez gelernt hatte, noch bevor er in den ärztlichen Dienst wechselte.

Natürlich nahm er nur ein paar Scheintreffer von Francos langsamen Fäusten hin, damit dieser zufrieden war. Peinlich war es trotzdem. Seine Liebe zu Elisa war echt, und er wusste, dass sie heute etwas Dummes anstellen würde. Sie war außer sich vor Wut auf Franco und Carlos.

Scott erreichte den Parkplatz des El Pinto spät und sah Elisa bereits wutschnaubend zu Francos Mustang stürmen, noch bevor er selbst geparkt hatte. Mit blockierenden Reifen kam er zum Stehen, hechtete hinter seiner Freundin her, rief zweimal ihren Namen. Der schwarze Benz rollte zwischen ihn und Elisa.

Seine militärischen Kenntnisse aus der Spezialeinheit halfen ihm, die Situation blitzschnell zu erfassen. Fast zeitgleich nahm er den roten Cadillac und die Polizistin wahr, als die Maschinenpistole losging.

Das erste Projektil traf Elisa von hinten am Oberschenkel, die nachfolgende Salve überrollte die Polizistin. Ihr kleiner Körper wurde meterweit nach hinten geschleudert und blieb schlaff liegen. Elisa rutschte langsam an der Motorhaube des Mustangs zu Boden. »Verdammt, das Baby!« Sie begriff kaum, was ihr geschah. Ihr Blick ruhte auf dem Cadillac ihres Vaters, der im nächsten Moment ebenfalls getroffen wurde. Franco starrte mit großen Augen und offenem Mund auf den vorbeirollenden Benz, wirkte aber unverletzt.

Eine zweite Salve peitschte in die Prärie. Scott musste zuerst den Schützen ausschalten. Er jagte im Vollsprint hinter dem Mercedes her, kam ihm von hinten links näher. Der Attentäter schoss nach rechts aus dem Seitenfenster. Scott sah die dritte Salve quer über den Cadillac pflügen. Als die vierte Salve losging, hatte er die S-Klasse erreicht.

Er griff durch die abgesenkte Scheibe über die Schulter des Schützen, packte Pablos Kinn mit eisernen Fingern und zog seinen Kopf nach hinten, um mit der zweiten Hand einen Zangengriff anzusetzen. Nach den physikalischen Regeln des Hebelgesetzes zogen seine neunzig Kilo nun auf der Kraftseite am Kopf des Schützen. Pablo hatte nichts entgegenzusetzen. Die vierte Salve prasselte durch das Dach des Benz in den Himmel, und noch bevor sie endete, brach Pablos Genick laut knackend.

Kurze Stille nach dem ohrenbetäubenden Lärm der Schüsse. Dann kamen Schreie hoch in Scotts Wahrnehmung.

Scott ließ los. Der Benz rollte mit dem schlackernden Kopf am Seitenfenster weiter. Irgendwann würde ein Kaktus im Weg stehen. Scott musterte die Szene: Elisas Oberschenkel pumpte rhythmisch Blut aus der Wunde. Zu viel Blut. Vielleicht zehn Minuten bis sie verblutet wäre. Sie und ihr gemeinsames Baby.

Die Polizistin trug eine schusssichere Weste. Sie bewegte sich nicht – ein schlechtes Zeichen. Scotts Blick glitt über Carlos Caddy. Julio hatte sich im Sitz aufgerichtet, die Kugeln für Carlos abgefangen. Nun saß er zusammengesackt hinter der geplatzten Windschutzscheibe. Er lebte noch, überleben würde er keinesfalls.

Ein erster Gast streckte die Nase aus dem Diner. Scott schrie ihn an:

»Bringt frische Tücher, Cachasa und ruft die Rettung! Drei bis fünf Schwerverletzte durch Schüsse!«

Franco kroch unverletzt aus seinem zerschossenen Mustang und jammerte:

»Eva … Eva …«

Der Gast aus dem Diner kam mit Tüchern und hochprozentigem Zuckerrohrschnaps.

Scott schrie Franco an:

»Hierher, Franco! Wenn du willst, dass deine Cousine und deine Freundin am Leben bleiben, dann komm gefälligst her!«

Franco folgte den Anweisungen, überrascht von Scotts bestimmender Art.

»Hand her!«, fauchte Scott und schüttete die halbe Flasche Cachasa über Francos rechte Hand. In der Ferne heulten Sirenen.

Scott kniete über Elisa, nahm Francos Zeigefinger und schob ihn bis zum Ansatz in die Wunde ihres Oberschenkels. Der Blutstrom ließ nach.

»Wenn du willst, dass sie lebt, nimmst du den Finger erst raus, wenn ein Arzt es im OP erlaubt, verstanden?«

Franco nickte.

»Was ist mit Eva?«, keuchte er.

»Rette meine Freundin, und ich tue alles, um deine zu retten, kapiert?« Franco nickte ein zweites Mal.

Scott eilte zu Eva. Sie sah übel aus. Fast eine ganze Salve hatte sie niedergemäht. Die Weste schützte ihren Torso, doch ihr Becken war zertrümmert, der Kopf hatte nur einen Streifschuss abbekommen – Gott sei Dank -ein Treffer hätte sie sofort getötet. Ihre Chancen standen trotzdem schlecht.

Polizei und zwei Rettungswagen trafen ein. Zwei Rettungswagen für dieses komplette Desaster. Verdammtes New Mexico. Eva wurde eingeladen, Scott blieb bei ihr.

»Ich bin Arzt.« Die Rettungssanitäter zweifelten nicht.

Der zweite Wagen nahm Elisa auf, mit ihr Franco, dessen Finger sie am Leben hielt. Die Retter bestätigten ihm, er dürfe sich nicht bewegen, bis ein Arzt etwas anderes anordnet. Für Julio kam jede Hilfe zu spät. Carlos kroch auf allen Vieren, paralysiert, über den Parkplatz. Er hatte erschütternde Dinge gesehen, die ihn aus der Balance warfen.

Die Fahrt nach Alamogordo erschien Franco endlos. Er redete unentwegt auf die halbbewusstlose Elisa ein, dass alles gut werde und er sie liebe. Ahnungslos, dass sie Scotts Kind in sich trug.

»Lass mich nicht sterben, Franco«, schluchzte sie zwischen zwei Welten.

Plötzlich fuhr der Rettungswagen langsamer, hielt an.

»Was ist los?«, schrie Franco.

»Wir können unmöglich schon da sein!«

Die Schiebetür wurde aufgerissen. Scott stand halb im Wagen.

»Verdammte Scheiße, unsere Karre ist heiß gelaufen. Das hier hing die ganze Fahrt vor unserem Kühler!«

Er wedelte wütend mit etwas Weißem. Franco erkannte es sofort: die Papiertüte mit Elisas Smiley und der „fck.u“-Notiz, die er achtlos aus dem Auto geworfen hatte. Sein Blut gefror.

Er war verantwortlich, wenn Eva sterben würde und Carla für immer allein blieb. Eva, die ihm täglich klar machte, Müll nicht in die Natur zu werfen. Eva, die fasziniert zusah, wie er sich um behinderte Menschen kümmerte. Er liebte sie – genau in diesem Moment wurde ihm das noch mehr bewusst.

»Ihr fahrt weiter«, bestimmte Scott.

»Nein, nein warte! Was ist mit Eva?« Franco blickte ihn verzweifelt an.

»Sie ist Polizistin und würde wollen, dass Elisa zuerst versorgt wird. Außerdem ist Elisa schwanger.«

Scott hatte die Triage längst vollzogen.

»Wie geht es ihr?«

»Sie kämpft, aber es sieht nicht gut aus.«

Scott schob die Schiebetür zu, klopfte auf das Blech als Zeichen, dass weitergefahren werden konnte. Dann stieg er in den lahmgelegten Rettungswagen und hatte keinesfalls vor, Eva kampflos aufzugeben.

Ein Jahr später

Scott lag im Bett, streichelte zärtlich über Elisas sternförmige Narbe am Oberschenkel.

»Schatz, wie spät ist es in Phoenix?«, fragte er beiläufig und wählte Francos Nummer.

»Hi Franco, hier ist Scott.«

»Hey, Muchacho, wie ist das Leben in Kalifornien als berühmtester Unfallarzt der Vereinigten Staaten?«

Franco lachte, konnte Scotts errötendes Gesicht vor sich sehen.

»Wirklich gut. Das Krankenhaus ist toll, Elisa hat ein Wirtschafts-Studium begonnen, das überwiegend online läuft. So kann sie sich gleichzeitig um Klein-Julio kümmern – er macht sich großartig. Aber ich rufe eigentlich wegen meiner Lieblingspatientin an. Wie geht es Eva?«

Gerade in dem Moment kam Eva mühsam mit dem Rollator ins Wohnzimmer.

»Eva läuft fast alleine!« rief sie selbst. »Du bist auf Lautsprecher, Scott.«

Tränen stiegen in Scotts Augen.

»Danke, Scott, danke für alles. Die Ärzte sagen, ich werde wieder, auch wenn es noch eine Weile dauert.« Sie holte kurz Luft.

»Habt ihr etwas von Carlos gehört?«

Elisa sprach jetzt:

»Es geht ihm gut. Er versucht, einige Dinge zu regeln, die er in seinem Leben falsch gemacht hat. Er besucht nach und nach seine früheren Affären, um herauszufinden, ob es Kinder gibt, die er vernachlässigt hat. Das ist gerade das Wichtigste für ihn.

Auch wir haben uns versöhnt.«

Sie schwieg über Julio, soweit war sie noch nicht.

Eva und Franco lächelten sich erleichtert an.

»Das soll er tun. Jeder hat eine zweite Chance verdient. Wir hoffen, dass er noch etwas findet, das ihn glücklich macht.«

Eva schluckte kurz und sprach dann weiter.

»Und sag ihm bitte, wie dankbar wir sind, dass Carla mit uns nach Phoenix gehen konnte und diesen wunderschönen Platz in der Einrichtung hat, in der Franco arbeitet. Wir sind sehr glücklich.«

Epilog

Julio rang um seine letzten Atemzüge in dem zerschossenen, alten bordeuxroten Cadillac, mit dem er seit zwanzig Jahren Carlos kutschierte und belog. Das Letzte, was er sah, war seine verletzte Tochter Elisa auf der Haube des Mustangs. Sie blickte ihn traurig an und formte die Worte:

»Love you Daddy.«

Er lächelte sie mit einem Blick an, der wirkte, als nähme sie ihm gerade eine schwere Last von der Seele.

Dann ließ er los.