Der dürre Rücken

Am Ende mussten wir ihn einsperren und fernhalten von Bibliotheken, Buchhandlungen, Archiven. Zu groß war die Macht, die er besaß. Da er weder über eine Sprache noch über Papiere verfügte, gingen wir davon aus, dass er extraterrestrisch sein musste.

Was hatten wir Menschen über Jahrhunderte unseren imaginären Literatur-Helden für Kräfte angedichtet. Viele waren nicht mehr übrig, denn die wahre Kraft war seine. Er hatte unsere Helden gegessen. Er nährte sich von Literatur. Die größte Macht, die es je gab auf Erden. Was er las, verschwand aus den Büchern und konnte auch nicht mehr neu aufgeschrieben werden.

Er begann einen Raubzug auf die gesammelten Werke der Menschheit. Selbst Schrift von Monitoren fütterte ihn, was ihm online den größten Gabentisch bescherte, den man sich vorstellen konnte. Anfangs hatte er keinen großen Hunger. Zunächst ein Buchstabe aus Hamlet, am nächsten Tag zwei. Sein Appetit wuchs schnell und nach ein paar Tagen war Shakespeare vertilgt. Unwiederbringlich.

Verblüffte Menschen meldeten sich immer öfter, dass ihre Ausgaben von „Romeo und Julia“, „Don Quijote“ und „Der Sturm“ nur noch leeres Papier enthielten, bis die ersten Behörden aufmerksam wurden.

Dafoe, Dante, Schiller, ihm schmeckte alles. Als Landes- und Nationalbibliotheken die Verluste bestätigten, wussten wir noch nicht einmal, wie die Texte aus den Büchern verschwanden. Was wir wussten, war, dass mehr und mehr Niedergeschriebenes verloren ging. Alle Bücher und Datenträger leerten sich in exponentiell zunehmender Geschwindigkeit. Dabei machte er auch vor Fachliteratur nicht halt. Das Haber-Bosch-Verfahren mundete ihm ebenso wie Cinderella und die Unabhängigkeitserklärung.

Hastig gegründete Expertenteams versuchten alles aus dem Gedächtnis erneut niederzuschreiben. Leider vergeblich. Sobald der Cursor auf die nächste Stelle sprang, verschwand der soeben getippte Buchstabe wieder. Auch handschriftlich liefen die Bemühungen ins Leere. Als ob ein unsichtbarer Tintenkiller jedem Schreibstift auf seiner Linie hinterher jagte. Bei Sprachaufnahmen und Fotografien von Texten lief es ähnlich ab.

Innerhalb weniger Generationen würde das meiste Wissen aus den Gedächtnissen gelöscht sein. Sein Hunger wurde unermesslich.

Autoren bildeten verzweifelt eine Gegenbewegung und schrieben massenweise neue Geschichten. Nur ganz wenige ließen sich auf Papier oder den Monitor bringen. Auch wenn die Sätze anders formuliert waren, funktionierte es nur, wenn es eine neue Idee war. Ein Plot, den es schon gab, nährte sein hungriges Maul sofort. Wissenschaftliche Arbeiten waren damit nicht einmal mehr einen Rettungsversuch wert.

Der dünne Kerl fiel als erstes einer Philosophiestudentin in Pennsylvania auf, die lieber beobachtete als studierte und zufällig in der Universitätsbibliothek hinter ihm saß. Die Worte und Sätze ver- schwanden in der Leserichtung, die die jeweilige Sprache vorgab, nachdem sein Blick über sie glitt. Rasend schnell wie ein Cursor, der durch die gedrückt gehaltene Entfernen-Taste die Buchstaben aufsaugte, wie ein schwarzes Loch es mit Materie tat. Er tauchte auf der ganzen Welt auf und wurde von den Kameras der Bibliotheken, Museen und Internetcafés aufgenommen. Ein dürrer Rücken vor Buchstaben, die verschwanden, sobald er sie ins Auge fasste.

Wir nahmen ihn letztendlich ohne Gegenwehr in der „British Library“ fest. Da hatte er neben tausenden Werken Trivialliteratur bereits Platon, Mark Aurel, Wolfram von Eschenbach, Voltaire, Lessing, Grimm und vieles mehr verspeist, ohne sichtbar zuzunehmen.

Nun saß das hagere Bürschlein in dieser Zelle, die den höchsten Sicherheitsanforderungen entsprach und wurde von uns eingeordnet. Eine Kreatur, die es auf der Erde nicht geben konnte. Sein Gesicht gewann nur schwache Kontur in der Bewegung. Sobald es verharrte, wurde es unscharf. Somit ließ es sich nicht fotografieren für irgendeine Akte. Eines Morgens war er nicht mehr da. Einfach gegangen, ohne dass wir es bemerkt hatten oder verhindern konnten. Er muss durch die Wand verschwunden sein. Hunger trieb ihn weiter.

Als Bibel, Koran, Talmud und die anderen heiligen Schriften entleert waren, liefen Staaten und Religionen Amok. Sie beschuldigten sich gegenseitig der Sabotage. Kriege brachen aus. Der dürre Mann hatte alles gefressen, was unsere Werte und Erkenntnisse beschrieb.

Auf seinem Weg nach Hause, verspeiste er den letzten Snack. Die Arecibo-Botschaft, die von einem Radioteleskop in Puerto Rico 1974 ins All gesendet wurde. Binär codierte Informationen über unsere Biologie, Population und Herkunft.

Wenige Wochen zuvor erst hatte sie den dürren Rücken erreicht und neugierig gemacht. Seine Erscheinung verschwand so schnell aus unserem Gedächtnis, wie die Literatur, die er sich einverleibte. Alles Wissen der Menschheit versickerte in wenigen Generationen im Boden.

Der Boden, in den die letzten Wissenden nach und nach beerdigt werden mussten.