Die verbotene Frau
Knapp zwei Jahrzehnte hatte er die Gier im Griff. Mittlerweile konnte er sich einen glücklich verheirateten Musik-Professor nennen mit makelloser Karriere. Vom Straßenkünstler zum Orchesterleiter. Sein Studium hatte Simon sich zusammengetingelt und es in jungen Jahren dabei auch ordentlich krachen lassen. Die Jazz-Abende, die er damals in diversen Bars mühelos improvisiert hatte, waren ein Geheimtipp zu ihrer Zeit. Das Talent war Simon in die Wiege gelegt, die Brutalität wahrscheinlich auch.
Sein Vater war ein strenger Klavierlehrer und jähzorniger Ehemann. Man sagte ihm gewisse Dinge nach, die sich in den Privatstunden, vorzugsweise mit jungen Mädchen abgespielt haben sollen. Er war eines Nachts auf dem Heimweg aus der Weinschänke kopfüber in den Bach gefallen und elend ersoffen, obwohl bei Flachwasser nur wenige Zentimeter das Bachbett füllten. Eine Untersuchung des Vorfalls war vom Polizeichef und vom Staatsanwalt nicht angeordnet worden, da es sich um einen Unfall handelte, wie sie der Presse bekannt gaben.
Die Töchter der beiden Männer mussten jedoch nach seinem tragischen Tod nach einem neuen Klavierlehrer Ausschau halten.
Simon sah Charlotte zum ersten Mal, als er beim Vorspielen der Neu-Talente zufällig durch den Proberaum schlenderte. Sofort lief ihm ein Schauer über den Rücken. Normalerweise tauchten hier überwiegend Langweiler auf, doch diese junge Wilde erregte mehr als seine Aufmerksamkeit. Er blieb stehen und schob seine Lesebrille auf die Stirn. Die Bügel drückten dabei die wilden angegrauten Locken aus dem gebräunten Gesicht des Mittvierzigers. Simon hatte nichts von seinem attraktiven Charme eingebüßt, ganz im Gegenteil.
Charlotte hatte die Augen geschlossen und saß breitbeinig auf dem Hocker gegenüber dem Komitee. Den Rock des feingeblümten Sommerkleidchens hatte sie über ihre Knie hochgeschoben, damit sie das Cello ganz nah an sich heranziehen konnte. Sie hexte sinnlich Bachs Cello Suite No. 1 über den Bogen auf die Saiten und warf dabei wild ihre blonden Locken von rechts nach links. Simon merkte sofort, dass Charlotte, wie er selbst, über ein absolutes Gehör verfügte. Er stellte sich vor, wie Charlotte schwitzend unter ihm den Kopf hin und her warf, während er sie hart rannahm. Die Gier nach Macht war zurück. Sie mit einer Musik zu bespielen, die sie vielleicht nicht mochte. Strebend nach seiner persönlichen Perfektion ein sperriges Instrument zu bändigen, obwohl es nicht gestimmt war.
Er schüttelte sich kurz aus seinem Tagtraum und zwang sich, an neutrale Szenarien zu denken, so wie er es in der Therapie gelernt hatte. Vor zwanzig Jahren war er einmal zu weit gegangen und hatte ein Mädchen, das nur mit ihm reden wollte, mit K.O.-Tropfen gefügig gemacht. Das war der Wendepunkt in seinem Leben. Er war doch keine Bestie. Elke hatte er nie weh getan. Seine Frau hielt ihn für einen fürsorglichen Ehemann, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. So war er ja heute auch, Simon beherrschte seine Fantasien.
Charlotte war vielleicht gerade siebzehn und eine Naturgewalt, die Simon unbedingt kennenlernen musste. Der Orchesterchef wies den Komitee-Leiter an, sie nach der Probe in sein Büro zu schicken. Nach der Vorspielprobe wackelte Charlotte lasziv an Simons Bürofenster vorbei und er bemerkte, dass sie noch nicht einmal ihr eigenes Cello dabeihatte. Sie spielte die anspruchsvolle Nummer und gewann das Vorspielen haushoch und ganz beiläufig, als wäre es eine Runde Squash mit einem x-beliebigen Leihschläger.
Das Tier in ihm regte sich und wurde fast rasend, als sie seine Türklinke ausließ und gelangweilt aus der Akademie stolzierte, als hätte sie beim Shopping nichts Passendes gefunden. Nach einem kurzen Moment der totalen Verwirrung hechtete Simon Charlotte hinterher ins Altstadtgetümmel, getrieben von lang verdrängten Begehrlichkeiten.
Er sah sie ins Café Babette huschen, vor dessen Tür er noch einige Bahnen auf und ab zog. Wie ein Tiger, der auf der Fährte einer unwiderstehlichen Beute kurz haderte, weil er sich in Gefahr begeben musste, um sie zu reißen.
Dass er in dieses Café eintreten würde, war schon entschieden, als er zur Welt kam.
Charlotte hatte es sich an der Theke gemütlich gemacht und wertete ihre Dunhill mit einem doppelten Espresso auf.
„Junge Dame, entschuldigen Sie. Mein Name ist Simon Kalbusch. Ich leite die Musikakademie, in der Sie gerade so furios vorgespielt haben.“
„Professor Kalbusch, Sie müssen sich doch nicht vorstellen, jeder ambitionierte Musiker der Stadt kennt Sie. Ich heiße Charlotte Berger.“
Simon sah auf die Uhr. „Einen Gin Tonic, bitte“, rief er dem Barkeeper zu. „Mögen Sie auch einen, Charlotte?“
„Warum nicht?“, antwortete sie und hielt dem Barkeeper das Victory-Zeichen hin. Dieser nickte und zog ein zweites Glas aus dem Regal.
„Wieso habe ich noch nichts von Ihnen gehört, Charlotte?“, fragte Simon. „So ein Naturtalent wie Sie läuft nicht lange unentdeckt herum in einer Stadt, in der es eine Musikfakultät und ein bekanntes Orchester gibt.“
„Ich habe viele Talente“, antwortete Charlotte süffisant und sah Simon tief in die Augen.
Spätestens jetzt war der Tiger vom Jäger zur Beute geworden. Er wusste es nur noch nicht.
Als Simon aufwachte, konnte er sich nicht bewegen und seine Augen waren verbunden. Sein Kopf dröhnte und schmerzte, wie nach einem Heavy Metal Konzert. Seine Erinnerung teilte ihm mit, dass es einige Drinks gab, bevor Charlotte ihn mit zu sich in ihr Apartment genommen hatte. Gleich hinter der Wohnungstür wich sie seiner stürmischen Zunge aus und er ohrfeigte sie so heftig, dass ihr Kopf zur Seite schnappte. Er warf sie aufs Bett und war so geil, wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Mit mahlenden Kieferknochen starrte er bebend auf das wehrlose Mädchen.
Dann fuhr ein Blitz in seinen Kopf und es wurde dunkel.
Jetzt wurde ihm die Augenbinde abgenommen, der Knebel im Mund verblieb an Ort und Stelle, was auch notwendig war, damit er bei dem Anblick nicht alles zusammenschrie. Simon sah auf seine Hände und riss schockiert die Augen auf. Panik hangelte mit eisernen Griffen seine Luftröhre hoch und Tränen erschwerten die Sicht, denn im Halbdunkel vor sich steckten seine Finger im Schnittschwert einer elektrischen Heckenschere. Jeder einzelne fein säuberlich sortiert in einem Zwischenraum der zwei gezahnte Schneidbalken, die mit hoher Geschwindigkeit übereinander gleiten.
Wenn man sie denn einschaltet.
Diese Heckenschere war vorbereitet, die Zweihandbedienung mit Kabelbindern überbrückt. Einzig und allein der Netzstecker fehlte noch und lag vor Simon auf dem Tisch. Ihm gegenüber saß Charlotte mit ihrer blauroten Wange, die sie ihm verdankte.
„Simon, du hast doch gewusst, dass dein kleines Geheimnis dich eines Tages einholt.“ Charlotte steckte sich den Mittelfinger bis zum Ring, den sie trug in den Mund. Sie verharrte einige Sekunden, ohne ihren zornigen Blick von ihm abzuwenden. Dann zog sie ihn langsam durch ihre vollen Lippen wieder heraus. Simon begriff, dass seine Vergangenheit zurück war. Aus dem Dunkeln des Raumes trat eine Frau hinter den Rücken von Charlotte. Simon erkannte sie sofort, es war die hübsche Frau, die er vor zwanzig Jahren unter Drogen gesetzt und vergewaltigt hatte. An dem Abend, als sie ihn um ein Gespräch bat. Die Frau, an die Charlotte ihn in seiner tiefsten abgründigen Seele unweigerlich erinnert hatte.
„Sag Hallo zu meiner Mama, sie hat dir vorhin den Elektroschocker in den Nacken gedrückt, als du mich gefügig schlagen wolltest. Das wirst du ihr doch nicht übelnehmen, du Schwein, oder?“
Simon schüttelte hektisch den Kopf, er wusste, dass er hier gerade gar nichts zu melden hatte.
„Simon, weißt du, worüber ich damals mit dir sprechen wollte?“, fragte die Frau, die kaum vierzig war und Charlottes Mutter sein sollte. Simon schüttelte hektisch den Kopf, er wusste es nicht.
„Dann kläre ich dich mal auf, mein Freund“, Simon wusste nicht, ob er mehr Angst vor Charlotte oder ihrer Mutter haben sollte. Er schielte immer wieder auf seine Finger in der Heckenschere. Die zehn Finger, die als Pianist das Wertvollste waren, was er im Leben hatte.
„Ich bin das ungewollte Kind einer Staatsanwaltstochter und eines gewissen Klavierlehrers.
“Simon konnte die Schauer nicht zählen, die seinen Körper schüttelten, als sie diese Worte aussprach. Das unfassbare, markerschütternde Beil der Gerechtigkeit traf ihn mitten in seine geteilte Seele. Geteilt durch Vergangenheit und Gegenwart. Alles holte ihn wieder ein. Sein Vater, den er hasste, weil er ihm dieses Verlangen vererbte. Sein Kampf dagegen, der ihn zu einer Art trockenen Alkoholiker der Lust machte.
Er hatte vor zwanzig Jahren seine eigene Halbschwester vergewaltigt, die ihn aufsuchte, um mit ihm zu reden. Simon erstickte fast an der Erkenntnis und an dem Knebel in seinem Mund.
„Du glaubst also, dass du verstanden hast, worum es hier geht?“, Charlotte ergriff wieder das Wort.
Simon nickte.
„Du hältst mich für deine Tochter, das Kind, das du mit deiner Schwester gezeugt hast?“, Charlotte war so erregt, dass sie spucken musste. Simon nickte schluchzend.
„DU HAST JA KEINE AHNUNG!“, schrie Charlotte ihn in Tränen aufgelöst an.
„Ich bin sechzehn und habe einen echten Vater, aber ich stelle dir gern meine ältere Schwester vor.“ Charlottes Mutter fuhr ihre Schwester in den Raum. Im Rollstuhl, unfähig zu gehen und gezeichnet von schweren körperlichen Behinderungen.
„Babette, das da ist dein toller Vater“, sagte Charlotte in einem zutiefst verächtlichen Ton. Sie gab den Stecker und die Steckdose am Verlängerungskabel in Babettes Hände.
„Weißt du, Simon, was Babette kann? Sie kann die Hände zusammenführen, wie beim bekannten Klatschen vom Musikunterricht Dreijähriger und sie hat einen brillanten Geist. Simon war auf dem Weg den Verstand zu verlieren. Seine Augenbinde wurde wieder angelegt.
Babette sagte leise zwei Worte: „Danke Vater!“, dann schob sie die Stecker zusammen. Während sie Simon zurückließen, nässte dieser sich auf der Stelle ein und schrie hinter seinem Knebel gegen die rasselnde Heckenschere an.
Als Simon gefunden wurde, spielte eine Tonaufzeichnung aus einem Lautsprecher in Endlosschleife Geräusche von knirschendem Fleisch und Knochen in einer Heckenschere. Der Musik-Professor hatte sein absolutes Gehör und den Kontakt zur Realwelt verloren. Simon konnte seine Karriere nicht fortsetzen, obwohl er alle Finger behalten hatte.
Das Kabel, das Babette eingesteckt hatte, gehörte nicht zu der Heckenschere, sondern zum Tonwiedergabegerät.
Das Zittern seiner Hände hörte einfach nie wieder auf. Auch seine Frau Elke sah er nie wieder, nachdem sie das Video sah, indem ihr liebevoller Ehemann Simon Charlotte aufs Bett prügelte, bevor ihn der Elektroschocker stoppte.

Jetzt muss ich erst einmal tief durchatmen.
Keine leichte Kost und trotzdem will die Geschichte zu Ende gelesen werde!
Liebe Irene
Schön, dass du zu Ende gelesen hast, denn eine ganz wesentliche Wendung passiert erst im vorletzten Absatz.
Ich danke dir, diesen unbequemen Einblick in menschliche Abgründe durchgestanden zu haben.
Liebe Grüße
Stephan
Sehr spannend. Coole Geschichte
Vielen Dank, liebe Ute.